Neuer Entwurf der Europäischen Kommission vom 16.12.2025
Autor:innen:
Miriam Schulze CEO von BAYOOMED
Julia Schliesch Marketing Generalist bei BAYOOMED
Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag zur Änderung der MDR und IVDR vorgelegt, mit dem regulatorische Anforderungen für Medizinprodukte vereinfacht werden sollen. Im Fokus steht dabei auch die Anwendung der MDR-Regel 11 zur Klassifizierung von Software. Hintergrund sind anhaltende Bedenken, dass die bestehenden Regelungen für Hersteller häufig zu komplex, kostenintensiv und schwer planbar sind.
Für Hersteller hätte insbesondere eine Einstufung als Klasse I spürbare Vorteile: Die Einbindung Benannter Stellen wäre nicht erforderlich, wodurch Kosten und regulatorischer Zusatzaufwand reduziert werden. Gleichzeitig könnten Markteintritte, Updates und Weiterentwicklungen deutlich schneller umgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund kommt dem Vorschlag der Europäischen Kommission zur Überarbeitung von Regel 11 besondere Bedeutung zu. Eine klarere und praxisnähere Formulierung könnte die Rechtssicherheit erhöhen und Innovation sowie Planungssicherheit im Bereich der Medizinsoftware stärken.
Warum hat sich die EU die MDR noch einmal vorgenommen?
Seit Inkrafttreten der MDR zeigen sich in der Praxis deutliche Herausforderungen:
Mit dem neuen Entwurf reagiert die Europäische Kommission auf diese Entwicklungen. Ziel ist ausdrücklich keine Absenkung der Sicherheitsstandards, sondern ein praxisnäherer, besser handhabbarer Rechtsrahmen, der Innovation ermöglicht und gleichzeitig Versorgungssicherheit gewährleistet.
MDR-Regel 11: Wie war es bisher? Was ist neu?
Bisherige Anwendung
Bislang wurde MDR-Regel 11 so ausgelegt, dass Software zunächst daraufhin geprüft wurde, ob sie diagnostische oder therapeutische Entscheidungen unterstützt. War dies der Fall, erfolgte in der Regel eine Einstufung in Klasse IIa, IIb oder III. Nur Software ohne entsprechenden Bezug wurde der Klasse I zugeordnet.
Problematisch an dieser Systematik war insbesondere der erhebliche Interpretationsspielraum. In der Praxis existieren unterschiedliche Auffassungen darüber, ob Software überhaupt noch als Klasse I eingestuft werden kann. Während einige Akteure davon ausgehen, dass praktisch jede medizinische Software mindestens Klasse IIa ist, vertreten andere die Ansicht, dass Diagnose und Therapie ausschließlich durch Ärztinnen und Ärzte erfolgen und rein patientenfokussierte Anwendungen daher weiterhin Klasse I sein können.
Zur Klärung dieser Fragen sollte insbesondere das MDCG-Dokument MDCG 2019-11 Rev. 1 beitragen. Die dort genannten Beispiele für eigenständige Software der Klasse I, etwa eine Anwendung zur Bestimmung fruchtbarer Tage oder eine Kommunikationshilfe für Menschen mit Sprachstörungen, sind jedoch sehr eng gefasst und bieten nur begrenzte Orientierung für andere Anwendungsfälle. Für viele Softwareprodukte, insbesondere im Umfeld digitaler Gesundheitsanwendungen, blieb die Klassifizierungsfrage damit weiterhin unscharf.
Neuer Ansatz im Kommissionsentwurf
Der neue Entwurf kehrt die bisherige Logik von MDR-Regel 11 um. Künftig soll medizinische Software grundsätzlich in Klasse I eingestuft werden, sofern keine klar definierten Eskalationskriterien erfüllt sind. Eine Hochklassifizierung erfolgt erst dann, wenn das mit der Software verbundene Risiko für die Patientensicherheit dies rechtfertigt.
Auszug aus dem Entwurf (Rule 11):
“Software which is intended to generate an output that confers a clinical benefit and is used for diagnosis, treatment, prevention, monitoring, prediction, prognosis, compensation or alleviation of a disease or condition is classified as class I, unless the output is intended for a disease or condition:
– in a critical situation with a risk of causing death or an irreversible deterioration of a person’s state of health (class III);
– in a serious situation with a risk of causing a serious deterioration of a person’s state of health or a surgical intervention, or to drive clinical management in a critical situation (class IIb);
– in a non-serious situation, or to drive clinical management in a serious situation or to inform clinical management in a critical or serious situation (class IIa).”
Damit rückt nicht mehr allein die abstrakte Zweckbestimmung der Software in den Fokus, sondern das konkrete klinische Risiko, das aus ihrer Anwendung resultiert.
Spürbare Vorteile für Hersteller bei einer Einstufung als Klasse I
Für Hersteller hätte eine Einstufung als Klasse I erhebliche praktische Vorteile:
Vor diesem Hintergrund ist der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Überarbeitung von MDR-Regel 11 von besonderer Bedeutung. Eine klarere und praxisnähere Formulierung könnte zu mehr Rechtssicherheit führen und gleichzeitig Innovation sowie Planungssicherheit im Bereich medizinischer Software fördern.
Aber: Wird es wirklich einfacher?
Eine kritische Betrachtung zeigt jedoch, dass die erhoffte Vereinfachung nicht für alle Softwareklassen gleichermaßen greift. Zwar wird Klasse I im neuen Wortlaut erstmals explizit als Ausgangspunkt genannt, doch orientiert sich die anschließende Differenzierung stark an bestehenden IMDRF-Definitionen, insbesondere am Konzept der „non-serious situation“.
Diese ist bereits heute detailliert beschrieben und umfasst Erkrankungen oder Situationen, bei denen eine korrekte Diagnose und Behandlung zwar wichtig, aber nicht kritisch zur Vermeidung irreversibler Schäden ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich argumentieren, dass ein Großteil medizinischer Software zumindest in einer „non-serious situation“ eingesetzt wird und damit weiterhin in Klasse IIa fällt.
Für hochklassige Software (IIb oder III) mag der neue Regeltext mehr Klarheit schaffen. Für Software im Grenzbereich zur Klasse IIa bleiben jedoch weiterhin Interpretationsspielräume bestehen. Ob der Entwurf hier tatsächlich zu einer spürbaren Vereinfachung führt, wird maßgeblich von der zukünftigen Auslegung durch Behörden und Marktüberwachung abhängen.
Was bedeutet das für die Praxis?
Der neue Ansatz könnte nationale Unterschiede und Interpretationsspielräume reduzieren, er entbindet Hersteller jedoch nicht von der Pflicht zu einer sauberen, risikobasierten Argumentation. Hersteller müssen weiterhin klar darlegen:
Die neue Fassung der MDR-Regel 11 ändert den Blickwinkel auf die Klassifizierung: Klasse I wird häufiger als Startpunkt der Bewertung genannt. Das bedeutet jedoch nicht, dass medizinische Software automatisch als Klasse I gilt. Vielmehr müssen Hersteller weiterhin fundiert darlegen, dass von der Software kein höheres klinisches Risiko ausgeht. Klasse I ist damit kein Automatismus, sondern der Ausgangspunkt einer nachvollziehbaren und belastbaren regulatorischen Begründung.
Fazit
Der Entwurf zur Überarbeitung von MDR-Regel 11 ist ein Schritt hin zu einer stärker risikoorientierten und praxisnäheren Regulierung medizinischer Software. Für Hersteller eröffnet er grundsätzlich Chancen auf schnellere Markteintritte, geringeren Zertifizierungsaufwand und mehr Flexibilität bei Weiterentwicklungen.
Eine umfassende Vereinfachung ist jedoch nicht zu erwarten. Zwar wird Klasse I künftig als Ausgangspunkt der Klassifizierung genannt, die Abgrenzung orientiert sich weiterhin an bestehenden IMDRF-Definitionen, insbesondere am Konzept der „non-serious situation“. Damit werden viele Softwareprodukte auch künftig mindestens der Klasse IIa zugeordnet bleiben.
Regulatorische Unsicherheiten bestehen somit fort. Eine Einstufung als Klasse I ist kein Freifahrtschein, sondern erfordert weiterhin eine saubere risikobasierte Begründung sowie vollständige Dokumentation, Risikomanagement und klinische Bewertung.

